Wie Mozart und Schubert hinterließ auch Mendelssohn, obgleich früh verstorben, ein ganzes Lebenswerk. Möglich war dies, weil auch er schon in jungen Jahren zu komponieren begann. Die notwendige Begabung wurde Mendelssohn in die Wiege gelegt. Darüber hinaus verfügte er aber auch über den Fleiß und die Leistungsbereitschaft, die das schwierige Handwerk des Komponierens einem jungen Menschen abverlangt. In welchem Maße er diese Eigenschaften besaß und wie gut sie von seinem Umfeld gefördert wurden, beweist sein umfangreiches Frühwerk, das uns erst in neuerer Zeit vollständig bekannt wird.
Daß Mendelssohn musikalisches Talent hatte, wurde schon früh offenbar. Als Kind erlernte er mit Leichtigkeit das Klavier- und Violinspiel. Im Jahre 1821, im Alter von 12 Jahren, erhielt er zusätzlich Kompositionsunterricht. Die Eltern wählten als Lehrer den Familienfreund Karl Friedrich Zelter, Musikprofessor an der Akademie der Künste in Berlin und Leiter der angesehen Berliner Singakademie. Bei dem „Handwerker“ Zelter (er war von Haus aus Maurer) lernte Mendelssohn das Komponieren von der Pike auf. Der behutsame Professor ließ den unruhigen Jungen zunächst im Stil der alten Meister, allen voran Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bachs, komponieren. Zelter war von den Leistungen seines Schüler so fasziniert, daß er ihn schon bald seinem Freund Goethe in Weimar vorstellte. Im November 1821 fand dort der vielfach beschriebene erste Auftritt des kindlichen Mendelssohn vor dem betagten Dichterfürsten statt. Goethe, der bereits das Wunderkind Mozart im Alter von 7 Jahren erlebt hatte, soll hierbei gegenüber Zelter geäußert haben: „Was Dein Schüler jetzt schon leistet, mag sich zum damaligen Mozart verhalten wie die ausgebildete Sprache eines Erwachsenen zu dem Lallen eines Kindes“. Mendelssohn wiederum konterkarierte in altklugen Briefen an seine Familie das Bild des Olympiers auf erfrischend unbefangene Weise, indem er ihn als Küßchen gebenden und fordernden gemütlichen Onkel beschrieb.
Bereits in seinem ersten Lehrjahr bei Zelter war Mendelssohn erstaunlich fruchtbar. Nach einigen Kompositionsübungen für Klavier wagte er sich an größere Aufgaben. Allein im Jahre 1821 schrieb er sechs seiner insgesamt 12 Streicher-Symphonien. Bald darauf folgten komplexe Vokalwerke a capella. Eines davon, die Vertonung des Psalms 119, führte Zelter noch im gleichen Jahr in der Singakademie auf, deren Mitglied Mendelssohn übrigens ebenfalls war. Seinerzeit notierte Zelter darüber in sein Tagebuch: „Das Stück kam schon so ziemlich heraus und wird sich noch mehr heben, wie der Componist selber, dem es weder an Talent noch an Fleiß, wohl aber an Ruhe und Geduld fehlt“.
Als erstes Werk für Soli, Chor und Orchester entstand in den beiden letzten Wochen des März 1822 das Magnificat. Der 13-jährige hatte das kantatenartige Werk ohne Auftrag Zelters in der Hoffnung komponiert, daß es in der Singakademie aufgeführt werde. Der Meister hatte offenbar wenig daran auszusetzen. Die Partitur weist, anders als bei den sonstigen frühen Werken des jungen Komponisten, an denen Zelter erhebliche Änderungen verlangte, nur geringfügigen Korrekturen auf. Dennoch scheint das Werk nie aufgeführt worden zu sein.
Wie die meisten Stücke, die Mendelssohn vor seinem ersten Meisterwerk, dem Streichoktett aus dem Jahre 1826, komponierte, ist auch das Magnificat ein Studienwerk in historischem Stil, dem die spezifischen Züge des nachmaligen Frühromantikers noch fehlen. Mendelssohn selbst ließ dieses und andere frühe Werke daher nicht als eigenständige Kompositionen gelten und verzichtete auf ihre Veröffentlichung. Auch Julius Rietz, der im Auftrage der Familie die Werke Mendelssohns nach dessen Tod herausgab, nahm die frühen Werke nicht in die erste „Gesamtausgabe“ auf. Er ließ sie völlig unerwähnt. Viele dieser Werke Mendelssohns sind daher erst wesentlich später veröffentlicht worden. Der Druck des Magnificat erfolgte sogar erst im Jahre 1996.
Heute sind die ersten Werke Mendelssohns nicht nur das Zeugnis der kompositorischen Frühreife eines außerordentlichen musikalischen Talentes. Sie gewähren auch einen interessanten Blick auf den Ausgangspunkt des ungeheuren Fortschrittes, welchen die Musik im 19. Jahrhundert machen sollte, eine Entwicklung, zu der Mendelssohn bekanntlich einen wichtigen Beitrag leistete.