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Erhebung (Philosophische Erzählung)

 

Alles fing damit an, dass eine jener vierfach abgestützten Kreaturen, die sich zutiefst lebendig auf der flachen Erde bewegten, den Überblick vermisste und sich erhob, um ihn zu erhalten. 

Es versteht sich, dass dieser Akt der Aufhebung Spannungen, ja Überspanntheiten bewirkte. Nichts hätte daher näher gelegen, als dass sich die Kreatur wieder auf ihre vier Füße begeben hätte. Doch die Erhebung war, nun da sie stattgefunden hatte, nicht mehr aufzuhalten. Eine Rückkehr zu stabilen Verhältnissen scheiterte, weil die Kreatur glaubte, sich den Halt, den sie brauchte, nun selbst schaffen zu können. Damit begann eine Bewegung, die auf Erden ohne Beispiel war und die – aus schwer festzumachenden Gründen – ins Unabsehbare führte. 

Die Kreatur verzichtete – Gott weiß durch welchen diabolischen Antrieb – auf das quadrupedöse Glück, auf Grund dessen sie bisher fest auf dem Boden der Tatsachen gestanden hatte. Sie hob zwei ihrer Stützen von der Unterlage, die ihr immer sicheren Halt gegeben hatte, erhöhte damit Kopf und Aussichtspunkt und betrachtete von dort die plötzlich weit gewordene Welt.

Die neue Stellung, die man später den aufrechten Gang nannte, weil man glaubte, so besser dazustehen, war allerdings höchst instabil. Denn die Kreatur, die unvermittelt aus behaglicher Horizontale in eine länglich-labile Vertikale gehoben worden war, bezahlte die unsachgemäße Aufrichtung mit dem Verlust ihres gesicherten Standes. Von nun an schwankte sie erheblich auf den verbliebenen Stützen. Mangels Halt musste sie Haltung suchen. 

Kaum stand nämlich die Kreatur auf ihren zwei Füßen, begannen sich die Dinge anders anzusehen. Die Welt, die ihr bislang klar und deutlich vor Augen gestanden hatte, war aus der neuen Perspektive weit und deutbar. Trotz der unklaren Aussichten weigerte sich die Kreatur  aber, auf den Boden gesicherter Gegebenheiten zurückzukehren. Seinen Grund hatte dies darin, dass sie sich in ihrer schwankenden Erhobenheit einer höheren Wahrheit näher wähnte. Die Einsicht darin glaubte sie in der Deutbarkeit zu finden, die aus der Erhebung über das Naheliegende resultiert. Mit geradezu artistischer Geschicklichkeit arrangierte sie sich nun mit der Unfestigkeit des Abstrakten. Die Instabilität des neuen Terrains glich sie durch die Einnahme eines Standpunktes aus. Diese Versuche führten in einen unendlichen Prozess der Überheblichkeit. 

Da sie keinen festen Boden mehr unter sich hatte, stellte die Kreatur nun Projektionen vor sich hin. Damit versuchte sie sich, von oben festzumachen. Stellte sich eine solche Vorstellung als haltlos heraus, entwarf sie unverdrossen neue Positionen. Aus diese Weise gelang ihr das Kunststück, sich durch immer neue und weitergehende Vorgriffe am eigenen Schopf in immer höhere Regionen emporzuziehen. 

Je höher die Kreatur den Kopf aber hob, desto größer kam sie sich vor. Dies wiederum bewirkte, dass sie immer höher hinaus wollte. Irgendwann fand sie, dass sie besonders groß wäre, wenn über ihr ein machtvoller Schöpfer stehe. Diesen stellte  sie sich so hoch vor, dass sie noch in seinem Abglanz erhaben erschien. Alsdann stellte sie – Fernes mit Naheliegendem verwechselnd – ihre Ähnlichkeit mit dem Schöpfer fest. Auf diese Weise glaubte sie sich von einigen unstandesgemäßen irdischen Gegebenheiten, insbesondere ihrer Endlichkeit befreit. Sie begann auch sonst in hohen Worten von sich zu reden, sammelte dieselben und begründete ihre mangelnde Erdverbundenheit damit, dass sie sich aus den aufgehobenen Worten ergäbe. 

Doch so viel die Kreatur vor sich stellte, so maßlos ihre Vorgriffe – sie wagte sich selbst an das Absolute und Unbegrenzte – , die Welt wollte ihr schwankend und deutbar bleiben. Selbst redlichstes Bemühen konnte nichts daran ändern, dass sie ohne festen Standpunkt blieb. Was Wunder also, dass sich die Kreatur in noch krummere Abenteuer verstieg. 

Weitere Erkenntnis über ihre Stellung versprach sie sich nun davon, dass sie ihre Sicht mit in den Blick nahm. Sie erhöhte erneut ihren Aussichtspunkt und betrachtete eine Welt, die um den Blick auf die Welt erweitert war. Jedoch auch dieser Akt der Aufhebung führte nicht zur Befestigung, sondern nur zu neuen fernen Aussichten. Denn wie jeden Aussichtspunkt, sei er nun vierfach, zweifach oder überhaupt nicht abgestützt, konnte man auch diesen Standpunkt von einer noch höheren Warte sehen, konnte den Betrachter des Betrachtenden betrachten. 

Nachdem sie sich auf diesen fliegenden Standpunkt gestellt hatte, gab es kein Halten mehr. Die Kreatur, die ausgezogen war, Befestigung zu finden, entschwebte, auch der letzten Stützen enthoben, von Aussicht zu Aussichten. In einer Art höherem Schwanken hob sie jede Position auf, indem sie sich darüber erhob. 

Schließlich fragte sich die Kreatur: „Wozu der Höhenflug, wozu soviel Aufhebens?“ Und sie sehnte sich nach der Nähe des Bodens, aus dem sie gewachsen war. Aber die Rückkehr zum niederen Erdenglück war ihr verwehrt. Sie war ihm in ihrer Erhabenheit so weit entrückt, dass sie es sich nicht mehr vorstellen konnte.

 

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